Ordnungsgemäße Zustände? Losverfahren städtischer Obrigkeiten in der Praxis. Wahrnehmung und Aneignung

CHRISTOPH FRIEDRICH WEBER (Braunschweig)

Abstract:

Gegenstand des Beitrags sind Losverfahren, die städtische Obrigkeiten in der Vormoderne zur Entscheidungsfindung und insbesondere zur Ämterbesetzung anwandten. Meist handelte es sich um mehrstufige Verfahren, in deren Verlauf die Liste der gleichrangigen Kandidaten neu gemischt und schließlich die Gewinner ermittelt wurden. Vor allem in den italienischen Stadtkommunen gehörte dies zum politischen Alltag. Bekannt sind die in Venedig praktizierten Wahlen in Staatsämter. Oft beschrieben, stehen sie zugleich als ein Beispiel dafür, wie Losverfahren in der zeitgenössischen Publizistik zu einem Vorbild für gute Regierung idealisiert wurden, um dann andernorts wieder in die Praxis überführt zu werden. Eigentlicher Gewinner war nicht der jeweilige Wahlsieger, sondern die politische Elite, die auf diesem Wege demonstrierte, daß das von ihr getragene Gemeinwesen wohlgeordnet und stabil war. Die Untersuchung des historischen Phänomens hat daher von den Formen und -techniken des Losentscheids auszugehen, deren ordnungsgemäße Zustände nicht einem Wahlkampf oder einer Einzelkarriere im heutigen Sinne, sondern der Inszenierung von Staatswesen und Weltbild diente.
Parallel zur Propagierung solcher Verfahren vollzog sich auch ihre Aneignung durch das Glücksspiel. Wetten auf den Wahlausgang trugen zur Entstehung der Lotterie bei, die als Staatslotterie zuweilen zeitgleich mit dem Losen ins Amt eingeführt und wie dieses mit dem öffentlichen Wohl begründet wurde. Der Beitrag fokussiert daher in einem zweiten Schritt die Spannbreite der Deutungen, die im Kontrast zur scheinbaren Statik des politischen Systems steht. An ihr lassen sich die Auswirkungen unterschiedlicher Aneignungen des Losens auf das Ordnungsdenken der Zeit beobachten. Denn wie war es zu verstehen, daß Staatsdenker im Losentscheid den Willen Gottes sahen, wenn Gewinn und Verlust in der Lotterie Fortuna zugeschrieben wurden?
Das Losglück und seine Beeinflussung beschäftigten den Verlierer Marino Sanudo, der die subtilen Machtspiele im Hintergrund registrierte, oder den erfolgreich ins Spitzenamt gewählten Frankfurter Johann Wolfgang Textor, dessen Vorahnungen weitererzählt und schließlich von seinem Enkel aufgezeichnet wurden. Solche, durch persönliche Erfahrungen motivierten Hinweise, wie auch die genannten Kontraste warnen davor, vom ordnungsgemäßen Zustand der Wahlinstrumente automatisch auf den des Gemeinwesens zu schließen.