Viele Verlierer, wenige Gewinner? Staatsverschuldung als Geschichte wert- und zweckrationalen Handelns in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

WERNER PLUMPE (Frankfurt am Main)
Moderation

MATTHIAS SCHMELZER (Genf)
„How undergrowthed do you consider your economy?“
Die OECD, ökonomische Experten und wie die Erwartung exponentiellen Wirtschaftswachstums sich durchsetzte

JULIA LAURA RISCHBIETER (Berlin)
Legendäre Leviathane?
Die Rolle multilateraler Finanzorganisationen in den Verschuldungskrisen der 1980er Jahre

HANS-PETER ULLMANN (Köln)
Die „Verschuldungskoalition“: Akteure und Aktionen in der bundesdeutschen Finanz- und Schuldenpolitik der 1970er Jahre

ALEXANDER NÜTZENADEL (Berlin)
Im Schatten des Staates: Sparer, Schuldner und private Vermögensbildung in Italien

FRIEDERIKE SATTLER (Frankfurt am Main)
Das Geschäft mit den Staatsschulden: Banken, Kapitalmärkte und die Securitization of Debt

ADAM TOOZE (New Haven)
Kommentar

Abstract:
Die Geschichte der Staatsverschuldung, so scheint es, kennt viele Verlierer und wenige Gewinner. Auf dem Höhepunkt der Krise oder im Rückblick auf vergangene Staatsbankrotte gab es, folgt man der Selbstbeschreibung der Zeitgenossen, oft nur Verlierer – oder aber die Gewinner schweigen lieber über ihren Profit. Auch im gegenwärtigen Ringen um die Konditionen der Konsolidierung öffentlicher Schulden in Europa verweisen alle beteiligten Akteure auf ihre Verluste. Die Sektion hinterfragt dieses Narrativ, indem sie die Prämissen und die Handlungskontexte untersucht, auf deren Grundlage von historischen Akteuren Entscheidungen getroffen worden sind, die sie oder andere zu Gewinnern oder Verlierern öffentlicher Verschuldung gemacht haben.
In den Fokus rücken damit einerseits Fragen nach den unterschiedlichen politischen Zielen, die unter Hinnahme von Finanzierungsdefiziten erreicht werden sollten und inwiefern Bürgerinnen und Bürger in ihrem Spar- und Wahlverhalten diese Politik mittrugen oder sich ihr verweigerten. Andererseits werden die Vorträge der Sektion exemplarisch diskutieren, auf welchen internationalen Trends, Veränderungen des Marktes für Staatsverschuldungsinstrumente und globalen ökonomischen Krisen die Ausweitung der nationalstaatlichen Haushaltsspielräume durch öffentliche Kredite fußte und ob einzelne Politiker, Parteien, gesellschaftliche Gruppen und Unternehmen Profiteure oder Leidtragende dieses Prozesses gewesen sind. Ziel der Sektion ist es, die langfristigen Ursachen und Auswirkungen chronisch unterfinanzierter Haushalte demokratischer Staaten in Zeiten liberalisierter Finanzmärkte aus der Perspektive nationaler und internationaler Handlungslogiken unterschiedlicher Akteure zu betrachten.

English Version:
Public debt, it would seem, is a constant in the history of humanity – and one with lots of losers and nearly no winners. Contemporary accounts at the height of crisis, as well as those looking back at national bankruptcies of the past, tend to suggest that there were only losers – or perhaps that the winners just preferred to keep quiet about their profits. In the current struggle over the conditions for consolidating public debts in Europe, almost all of the protagonists point to their losses. The Panel will be calling this narrative of national indebtedness as a purely loss-making affair into question by explicitly examining the premises and social and economic contexts in which historical actors reached the decisions that made them or others into winners or losers in the realm of public debt. National debt will thus be analyzed as more than just the result of macroeconomic constraints: it will be conceptualized as a history of social action as well.
The papers will concentrate, on the one hand, on the varied political aims pursued in accepting financial deficits: How and by way of which concessions were governments able to build parliamentary majorities? And to what extent did citizens support or reject these policies through their savings and voting behavior? On the other hand, the papers will use examples to discuss which international trends, changes in the market for national-debt instruments, and global economic crises the expansion of nation-state budget margins through public loans have been based upon. They will also investigate whether individual politicians, parties, social groups, and enterprises have been profiteers or victims of these processes. The overall aim is to consider, from the perspective of various protagonists’ national and international logics of action, the causes and effects of democratic states having chronically underfinanced budgets.