Verlorenes und Gewonnenes. Geschlechterverhältnisse und der Wandel des Politischen in der „langen Geschichte der Wende” in Ostdeutschland 1980 bis 2000

JENS GIESEKE (Potsdam)
Das Politische und das Private. Politische Partizipation als Geschlechterfrage. Vor, in und nach der Revolution von 1989

ANNETTE LEO (Jena) und CHRISTIAN KÖNIG (Jena)
Von der Wunschkindpille zum demografischen Knick. Verhütung und Bevölkerungspolitik

MICHAEL SCHWARTZ (München/Berlin)
Zwei deutsche Abtreibungspolitiken und das vereinigte Deutschland

ANJA SCHRÖTER (Potsdam)
Die Liebe, das Geld und das Recht. Ehescheidungsverhalten in der Systemtransformation

GUNILLA-FRIEDERIKE BUDDE (Oldenburg)
Kommentar

Abstract:
Übergreifendes Ziel des Panels ist es, mit den Geschlechterverhältnissen eine Dimension des revolutionären Systemwechsels in Ostdeutschland zu erschließen, die über den Prozess von Diktaturüberwindung und institutionellem Umbruch durch Beitritt zur Bundesrepublik hinaus geht und die „Wende“ als grundstürzende Transformation der Lebensverhältnisse in ihren längerfristigen Prozessen begreift.
Das Panel besteht aus vier Beiträgen und einem Kommentar. Dr. Jens Gieseke analysiert anhand von geheimer Demoskopie und polizeilichen Stimmungsberichten aus der späten DDR sowie sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ab 1989 die Haltungen von ostdeutschen Männern und Frauen zu Fragen politischer Partizipation. Enthielten, so ist etwa zu fragen, die unterschiedlichen Profile „des Politischen“ zwischen den Geschlechtern retardierende oder beschleunigende Elemente für die revolutionäre Eskalation Ende der achtziger Jahre?
Dr. Annette Leo und Dr. Christian König stellen zeitgenössische mediale Diskurse und individuelle Erinnerungen an den Umgang mit Verhütung, Familienplanung und Bevölkerungspolitik in der DDR und dem vereinigten Deutschland in den Mittelpunkt ihrer Präsentation. Vor allem für die von ihnen befragten Frauen der Geburtsjahrgänge 1963 bis 1965 bedeuteten die Jahre der Wende einen Bruch mit den bis dahin für selbstverständlich gehaltenen Möglichkeiten, Mutterschaft und Berufstätigkeit, gegebenenfalls auch ohne Partner, miteinander zu vereinbaren.
Daran knüpft Prof. Dr. Michael Schwartz mit seiner Analyse der Debatten um das Abtreibungsrechts im geteilten und im vereinigten Deutschland an, die für die jeweiligen Gesellschaften fundamentale Verständigungsprozesse über Wertpräferenzen und Geschlechterrollen erkennen lassen.
Schließlich diskutiert Anja Schröter Befunde zu den Wandlungen des Scheidungsverhaltens ostdeutscher Paare unter dem Einfluss von wechselnden rechtlichen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen der achtziger und neunziger Jahre. Im Fokus steht die Frage, ob Prägungen und Erfahrungen des sozialistischen Gesellschaftssystems in der Vereinigungsgesellschaft nachhaltig auf die Ausschöpfung rechtlicher Spielräume – insbesondere im Hinblick auf nacheheliche Versorgungsinstitutionen – wirksam oder von Existenzängsten zersetzt werden?
Der Kommentar von Prof. Dr. Gunilla Budde ermöglicht zugleich eine kontextualisierende Perspektive auf die Geschichte des Rollen- und Geschlechterverständnisses in Ostdeutschland.

English Version:
The overall goal of this panel is to use gender as a new approach for a history of the political transformation of East Germany in the 1980s and 1990s. The so-called „Wende“ is thereby understood as a long-term process, which not only included the overcoming of a dictatorship and resulting institutional changes, but brought about changing living conditions for millions of people.
The panel consists of four presentations as well as a subsequent commentary. First, Jens Gieseke will be talking about the attitudes of East Germans towards different aspects of political participation. Based on GDR opinion polls, secret reports by the Stasi and surveys from the early 1990s, he will discuss the role gender played in the run-up to the uprising of 1989.
Second, Annette Leo and Christian König will be focusing on public as well as private discourses about contraception, birth control as well as social policy and social engineering in the GDR and reunited Germany. According to oral history interviews with women born between 1963 and 1965, especially for single mothers, the revolution of 1989 caused a break concerning the previously given compatibility of family and career.
Third, Michael Schwartz will be analyzing debates about abortion legislation in divided and reunited Germany. His study shows how the different political systems were debating about gender roles and on which sets of values and gender roles there arguments were based.
Fourth, Anja Schröter will be giving a presentation on how changing socioeconomic conditions and eventually a new legal frameset were influencing East German’s divorce behavior during and following the demise of the GDR. She focuses on the questions, (I) if they were self-confidently taking advantage of the legal scope or if the new situation was rather intimidating to them, and (II) if this behavior emanated from specific cultural imprints and experiences they had made in the GDR.
A wrap-up by Gunilla Budde will conclude the panel by contextualizing the previous presentations within the broader history of gender roles and gender relations in the GDR.