Kinder des Krieges als Mittler zwischen Verlierern und Gewinnern in europäischen Nachkriegsgesellschaften

LU SEEGERS (Hamburg)
Vaterlose Kriegswaisen in der Bundesrepublik und in der DDR

SILKE SATJUKOW (Magdeburg)
„Besatzungskinder“ in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften

JEAN-PAUL PICAPER (Strasbourg)
„Kinder der Schande“ in Frankreich

MAREN RÖGER (Warschau)
„Wehrmachtskinder“ in Polen

LUTZ NIETHAMMER (Jena)
Moderation und Kommentar

Abstract:
Sieg und Niederlage lagen im Zweiten Weltkrieg dicht beieinander. Nach Jahren der Unterwerfung fremder Völker war Deutschland 1945 militärisch und moralisch besiegt. Millionen alliierter Soldaten trafen nun auf eine schuldbeladene wie angsterfüllte Zivilbevölkerung. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges beschäftigen die europäischen Gesellschaften bis heute, wobei generationsgeschichtliche Paradigmen in den letzten Jahren vermehrt auf geteilte Erfahrungen von Alterskohorten verwiesen haben. Der Begriff „Kriegskinder“ wurde gebräuchlich und flankierte im medienöffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs zumeist eine Opfererzählung. Die vorliegende Sektion möchte diese Engführung aufbrechen, indem sie diese Kinder in beiden deutschen Nachkriegsstaaten, in Frankreich und in Polen nicht nur als Opfer begreift, sondern auch als Mittler zwischen Gewinnern und Verlierern und als Wegbereiter von gesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen.
Die Erforschung dieser „zwischen den Mächten“ stehenden Gruppen der Kriegskinder konturiert eine Sozial- und Mentalitätsgeschichte von europäischen Nachkriegs-gesellschaften:
1.) Kriegswaisen: Allein in Deutschland hinterließen die mehr als fünf Millionen gefallenen Soldaten rund 2,5 Millionen Halbwaisen und rund 100.000 Vollwaisen. Ihre Väter waren von abwesenden Kriegshelden zu Kriegstoten geworden oder blieben dauerhaft vermisst.
2.) Besatzungs- und Wehrmachtskinder: Im Zweiten Weltkrieg drangen Millionen von Soldaten verschiedener Nationen gewaltsam in die Territorien des Feindes ein. Zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen fremden Soldaten und einheimischen Frauen kam es infolgedessen zu erzwungenen und zu freiwilligen sexuellen Kontakten. Allein in den besetzten Gebieten Frankreichs, Polens und später Deutschlands wurden mehrere Hunderttausend Kinder geboren.
Gemeinsam ist den diskutierten Kindergruppen die Fragilität ihrer Erzeuger: Kriegswaisen erinnerten die Gesellschaft an die militärische Niederlage, Besatzungskinder erinnerten an Transgressionen von patriotischen Werten und geschlechterabhängig definierten Sexualnormen. Durch ihre bloße Anwesenheit riefen die Kinder die Niederlage ihrer Väter (Kriegswaisen) oder das vermeintliche Fehlverhalten ihrer leiblichen Eltern (Besatzungskinder/Wehrmachtskinder) in Erinnerung. Sie wirkten als schmerzliche Stachel der Nachkriegsgemeinschaften und waren vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt. So galten Kriegswaisen zwar als anerkannte „Schicksalsgruppe“, zugleich waren sie mit nachhaltig wirkenden negativen Zuschreibungen konfrontiert, wie PD Dr. Lu Seegers in ihrem Vortrag über vaterlose Halbwaisen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften erläutert. Insbesondere vaterlose Jungen galten als schwer erziehbar. Vielfach fühlten sich Mädchen und Jungen insbesondere in Westdeutschland materiell und in der Schule benachteiligt, im Verwandten- und Bekanntenkreis argwöhnisch beobachtet und kontrolliert.
Noch ungleich stärkere Wirkung entfalteten gesellschaftliche Stigmatisierungen jedoch bei Kindern, deren Väter früher „Feinde“ gewesen waren. Während die Erzeuger alsbald in ihre Heimat zurückkehrten, verblieben die Kinder mitsamt ihren Müttern in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen im Geburtsland. Hinzu kamen psychische und sozialpsychische Ächtungen, auf die Prof. Dr. Silke Satjukow am Beispiel der Kinder von alliierten Besatzungssoldaten in Deutschland eingeht, während Dr. Maren Röger und der Politikwissenschaftler Jean-Paul Picaper die Situation von Kinder deutscher Wehrmachtssoldaten in Polen und in Frankreich behandeln. Die Vorträge der Sektion verweisen auf die Bedeutung einer europäisch vergleichenden und interdisziplinären Erforschung dieser vielfältigen Erfahrungs- und Erwartungsgeschichten, die bis heute aussteht.
Die Kindheit ohne Vater zeitigt bei den Betroffenen bis zur Gegenwart tiefgreifende und nachhaltige Auswirkungen, wie die Referate zeigen. In vielen „Halbfamilien“ wurde der verstorbene Soldatenvater ikonisiert und idealisiert. Dies steigerte bei den vaterlosen Kriegswaisen wie bei den Besatzungs- und Wehrmachtskindern das Gefühl, ihre Identität sei unvollständig, nur „halb“. Ihr Leben stand demgemäß unter den Auspizien eines fortwährenden Verlustes und permanenten Bemühens, diesen zu kompensieren.
Es wäre deshalb zu kurz gegriffen, vaterlose Halbwaisen und Besatzungskinder als Kriegsopfer und damit als Verlierer des Krieges zu charakterisieren. Ihre sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung erschöpft sich für uns nicht in der Dokumentation und Differenzierung der Modi ihrer Ausgrenzung. Ihre Geschichte eröffnet vielmehr eine weitere, für das Nachkriegseuropa wichtige Dimension: Die Anwesenheit der Kinder, der Umgang mit ihnen, bedeutete auch einen mittelbaren und oftmals sogar unmittelbaren Umgang mit dem „Anderen“, mit dem Fremden und mit der eigenen Vergangenheit – und das beileibe nicht nur für die Frauen und Mütter, sondern für zahlreiche Gruppen von Akteuren: für Nachbarn und Kollegen, für Sozialbeamte und Bürgermeister, für Ärzte und Lehrer, um nur einige zu nennen. Über diese Kinder kamen bis dahin undenkbare Kommunikationen zustande, diese Kinder setzten ungeahnte kulturelle Transfers in Gang. Sie avancierten zu Mittlern eines im und nach dem Krieg paradoxerweise neu entstehenden Kommunikations- und Kulturraums, mehr noch: Sie gerieten ungewollt zu Katalysatoren vielfacher Kompromissbildungen zwischen den Gewinnern und Verlierern des Zweiten Weltkrieges.
Mit Fortschreiten ihrer Biographien und infolge der Liberalisierungstendenzen der Nachkriegsjahrzehnte eröffneten sich den Kriegswaisen und den Besatzungskindern Möglichkeiten, ihr Stigma und ihr Anderssein zu einer Kompetenz und zu einem Gewinn
umzumünzen. Über sie liefen nolens volens zukunftsweisende Aushandlungsprozesse, die mit gesellschaftlichen Lernprozessen verbunden waren. – auch wenn ihr Beitrag zu diesem „Laboratorium der Liberalisierung“ stets mit hohen eigenen psychischen Kosten verbunden waren.
Die zentrale Fragestellung des Panels ist es, im synoptischen mitteleuropäischen Vergleich erstmals
* herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen genau die deutschen Wehrmachtskinder in Frankreich und Polen, sowie die Kriegswaisen und die alliierten Besatzungskinder in West- und Ostdeutschland aufwuchsen,
* die Haltungen und Einstellungen der vier Nachkriegsgesellschaften zu diesen besonderen Kindern herauszudestillieren. Lassen sich gesellschaftliche Wandlungs- und Entwicklungsprozesse im Umgang mit den Kindern feststellen – und wenn ja, unter welchen Umständen und mit welchen sozialen und politischen Auswirkungen?
* Die Potentiale und Grenzen einer kinderzentrierten Geschichtsschreibung zu erörtern.

English Version:
Victory and defeat laid so close to one another in the Second World War. After years of subjugating foreign peoples, Germany in 1945 was militarily and morally defeated. Millions of allied soldiers now encountered a frightfully fearful civilian population. The overall aftermath of the Second World War has occupied European societies up to the present day, and yet having said that, the paradigms of generational history in more recent years have pointed more and more to separate experiences for the different age groups. The concept of ‘war children’ came into use. In public media as well as in academic discourse it flanked (for the most part) a narrative about victims. However, the section proposed here would like to break open this narrowed view in that it would understand these children (in the two post-war German states, as well as in France and Poland) not solely as victims, but also as mediators between the winners and losers, and as preparing the way for processes of social liberalization.
Viewed this way, the primary focus will be on the war orphans in Germany, as well as on “occupation children” in Germany (fathered by the allied soldiers), and the “occupation children” in France, and Poland (fathered by German soldiers, also known as Wehrmachtskinder). The children’s mere presence brought to mind the defeat of their fathers (the war orphans) or the supposed misconduct of their birth parents. They had the effect of being painful barbs for the post-war societies and they were subjected to various forms of discrimination. On the other hand, what came about through the presence of these children were pathways of communication which prior that point would have been inconceivable: these children set into motion unforeseen cultural transfers. Paradoxically, the children developed into mediators of a newly emerging communication and cultural space both during and after the war. Even more than that: they unintendedly turned into catalysts for manifold compromises between the winners and losers of the Second World War.