Gewinner und Verlierer „Nach dem Boom” in Westeuropa

MORTEN REITMAYER (Trier)
Einführung. Gewinner und Verlierer „nach dem Boom” in Westeuropa

LUTZ RAPHAEL (Trier)
Gewinner und Verlierer in den Veränderungen der industriellen Arbeitswelt in Westeuropa

CHRISTIAN MARX (Trier)
Gewinner und Verlierer von Multinationalisierung

DIETMAR SÜSS (Augsburg)
Gewinner und Verlierer der Flexibilisierung der Arbeitszeit

STEFANIE MIDDENDORF (Halle-Wittenberg)
Gewinner und Verlierer der kulturellen Moderne in Frankreich

HARTMUT KAELBLE (Berlin)
Kommentar

Abstract:
Die zeithistorische Sektion versucht, Gewinner und Verlierer der wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken seit den 1970er Jahren in den westeuropäischen Gegenwartsgesellschaften zu identifizieren. In Form eines Überblicksvortrags und mehreren Vertiefungen sollen neben den „Verlierern“ der Umbrüche jenes Jahrzehnts auch und vor allem die Aufbrüche, die Möglichkeiten des Gewinns neuer Lebenschancen und die neuen oder sich ausweitenden Partizipationschancen untersucht werden. Das Ziel der Sektion besteht darin, das Verhältnis zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“ überhaupt abschätzbar zu machen. Darüber hinaus soll zum einen darüber Aufschluss gegeben werden, inwieweit die zeitgenössische Wahrnehmung die Gewinner- und Verlierergruppen überhaupt als Gruppe zur Kenntnis genommen hat; zum anderen sollen die Handlungsspielräume, die Erfolgs- und Bewältigungsstrategien von Gewin-ner- wie Verlierergruppen ausgelotet werden.
Die neueste zeithistorische Forschung hat sich der unmittelbaren Vorgeschichte der westeuropäischen Gegenwartsgesellschaften unter dem Stichwort „Nach dem Boom“ anzunähern versucht und damit vor allem den „Strukturbruch“ gegenüber der Epoche des starken Wirtschaftswachstums, des Massenkonsums, des Fortschrittsoptimismus und der sich konsolidierenden Demokratie nach 1945 postuliert. Diese Annahme soll in der beantragten Sektion kritisch überprüft werden.
Zwei zentrale Merkmale der Boom-Epoche waren demnach zum einen das (vorübergehende) Verschwinden der Massenarbeitslosigkeit gewesen, zum anderen eine relative Angleichung der Einkommensgruppen, also ein Rückgang materieller Ungleichheit. Dieser Prozess, der schon im ersten Viertel des 20. Jahrhundert begonnen hatte, kam im Verlauf seines letzten Viertels an sein Ende. Seit dem entstanden nicht nur die „neuen sozialen Ungleichheiten“, auch die „alten“ nahmen zu, kurz: Die Jahrzehnte „nach dem Boom“ brachten in einem für die Zeitgenossen völlig unbekannten Ausmaß Gewinner und Verlierer hervor.
Die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen haben sich in der Bundesrepublik aus begreiflichen Gründen vorzugsweise mit den Verlierern dieser Prozesse beschäftigt. Dem kam eine massenmedial vermittelte öffentliche Aufmerksamkeit entgegen, die sich in der Bundesrepublik besonders für die Nachfahren der industriellen Aufbaugeneration interessiert, also vor allem für die Stahl- und Bergarbeiter im Ruhrgebiet (etwa beim Arbeitskampf in Duisburg-Rheinhausen 1987/88). Doch Arbeitsplätze gingen nicht nur hier verloren, sondern generell in den Großbetrieben der „alten“ Industrien, also auch im Schiffbau und in der Textilindustrie. Gleichzeitig zeigten sich seit den 1970er Jahren in Westeuropa auch weite Teile der kulturellen Entwicklung als von Märkten angetrieben (Beispiel: Privatfernsehen mit national-spezifisch eigenen Geschwindigkeiten). Auch hier standen „Gewinne“, z.B. der Auswahlmöglichkeiten, „Verlusten“ gegenüber (etwa der Gefahr einer Vereinheitlichung des kulturellen Angebots). Auch diese Prozesse wurden von den Zeitgenossen kontrovers diskutiert.
In den zeitgenössischen Sichtweisen sind allerdings die materiellen Gewinner des wirtschaftlichen Wandels entweder nicht sichtbar oder nur indirekt in den Blick genommen geworden. Aus diesem Grund versucht die Sektion in einem ersten Beitrag zunächst, einen Überblick über die materiellen Gewinner und Verlierer im Prozess des Wandels der Industriearbeit im Westeuropa zu verschaffen, der präziser als bisher vorgenommen die einzelnen sozialen Gruppen im Ausmaß ihrer Betroffenheit identifiziert (Vortrag von Lutz Raphael). Dabei soll auch geklärt werden, welche „assets“ den „Gewinnern“ zu ihrem Erfolg verhalfen, und welche sozialen Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildungstitel, aber auch die Möglichkeit zu räumlicher Mobilität) die Verlierer trugen
In einem zweiten Schritt Aufschluss darüber gegeben werden, welche Strategien den Akteuren zur Verfügung standen, um die Folgen der Umbrüche zu bewältigen. Diese Frage zielt sowohl auf individuelle und kollektive „Gewinner-Strategien“ als auch auf Möglichkeiten und Erfolgschancen kollektiver Protestformen.
Nach dieser „Übersichtsdarstellung“ sollen zwei Beiträge einzelne Problemfelder vertiefend untersuchen. Zum einen erfolgte seit den 1970er Jahren eine Welle der „Multinationalisierung“, also des Versuchs von Unternehmen, durch Fusionen mit bisherigen ausländischen Konkurrenten den sinkenden Wachstumszahlen zu trotzen, Synergieeffekte freizusetzen, billiger zu produzieren, lukrative Märkte erschließen zu können usw. (Christian Marx). Diese Bewegung brachte zweifellos Verlierer hervor, z.B. wenn als unrentabel erachtete Betriebseinheiten oder ganze Werke geschlossen wurden. Andererseits gab es auf allen Ebenen, von Berufsgruppen über neue Marktnischen bis hin zu Regionen, die sich als attraktive Standorte zu profilieren vermochten, auch Gewinner der Multinationalisierung. Hier soll eine Schneise zur Vertiefung des wirtschaftshistorischen Verständnisses der Post-Boom-Epoche und ihrer Gewinner wie Verlierer geschlagen werden.
Zum anderen wurde „Flexibilität“ zu einem entscheidenden Faktor für die Zugehörigkeit zu Gewinner- oder Verlierergruppen, und „Flexibilisierung“ zu einem der wichtigsten Anpassungsmechanismen, der Individuen wie Gruppen, Unternehmen wie staatlichen Regulierungen abverlangt wurde (Dietmar Süß). Hier soll der Frage nachgegangen werden, wie die Flexibilisierung der Arbeitszeit seit den 1970er Jahren Gewinner und Verlierer entstehen ließ. An dieser Stelle ist die Zuordnung von „Gewinnern“ und „Verlierern“ weniger einfach und offensichtlich, da beispielsweise die Flexibilisierung der Arbeitszeit sowohl neue Möglichkeiten als auch neue Zwänge entstehen ließ, die sich als Gegensatzpaare ausdrücken lassen (z.B. Autonomie vs. Sicherheit. Dabei ist daran zu erinnern, dass gerade die Flexibilisierung der Arbeitszeit in den Unternehmen und auf Branchenebene einen heftig umkämpften Gegenstand darstellten, weshalb an dieser Stelle auch kollektive Protestformen und Bewältigungsstrate-gien offenbar werden.
Schließlich soll eine Fallstudie zur französischen Kulturpolitik nach 1970 Aufschluss geben über die semantische Konstruktion von „Gewinnern“ und „Verlierern“ „nach dem Boom“ (Stefanie Middendorf). Hier sind weniger die materiellen als die kulturellen „Gewinner“ und „Verlierer“ von Belang. Bemerkenswerter Weise scheint in der zeitgenössischen Auseinandersetzung über die soziokulturellen Auswirkungen der Moderne in Frankreich der zentrale Bezugspunkt der Diskussion die Kommerzialisierung und Vermarktlichung der Massenmedien bzw. der Kultur überhaupt gewesen zu sein. Deren Auswirkungen wurden jedoch kontrovers diskutiert: Während eine Richtung der kulturpolitischen Diskussion die Märkte für kulturelle Güter als Bedrohung des kulturellen Pluralismus in Frankreich ansahen, sah eine andere Richtung das „Spiel des Marktes“ als Chance, breite Bevölkerungsschichten kulturell zu erreichen. Ungeklärt ist dabei allerdings, inwiefern beide Richtungen die aktive kulturelle Partizipation unterschiedlicher sozialer Gruppen überhaupt ins Auge gefasst haben.
Der abschließende Kommentar stellt sich der Herausforderung, die Einzelbefunde der Vorträge in ein Gesamtbild der europäischen Sozialgeschichte „nach dem Boom“ einzuordnen, sie aber gegebenenfalls auch in der Reichweite ihrer Argumente, vor allem hinsichtlich der An-nahme einer Epochenzäsur, zu korrigieren.