Die Materialität der Geschichte. Dinge als Signaturen ihrer Epoche

BEATE WAGNER-HASEL (Hannover)
„Der Stoff der Gaben” – revisted. Plädoyer für einen materiellen Kulturbegriff

HEDWIG RÖCKELEIN (Göttingen)
Mittelalterliche Sakralobjekte. Zu ihrer Bedeutung, Funktion und Rezeption

MARIAN FÜSSEL (Göttingen) und SVEN PETERSEN (Göttingen)
Ananas und Kanonen. Zur materiellen Kultur globaler Kriege im 18. Jahrhundert

REBEKKA HABERMAS (Göttingen)
Die Peitsche im Reichstag. Koloniale Objekte und globale Praktiken

REINHARD BERNBECK (Berlin)
„Framed Ambiguity”. Der historiographische Status der Dinge aus Grabungen in Konzentrationslagern und Zwangsarbeitslagern

Abstract:
Die Materialität des Historischen sowie die Geschichte der Materialität sind in jüngerer Zeit verstärkt in den Fokus gerückt. Galt ‚materielle Kultur‘ lange Zeit als vergleichsweise randständige Sparte der historischen Wissenschaften, so hat sich dies im Zuge eines material turn inzwischen deutlich geändert. Die Sektion nimmt diese Entwicklungen zum Anlass einer Bestandsaufnahme der historischen Materialitätsforschung im interepochalen Vergleich. So fragen wir an Schlüsselobjekten einer jeweiligen Epoche, wie mit Dingen gehandelt wurde, welche Bedeutungen den Dingen zukamen und welche Wertigkeiten und Konfliktpotentiale den Dingen eingeschrieben waren. Anhand der antiken Kultur der Gabe fragt BEATE WAGNER-HASEL zunächst ausgehend vom Homerischen Epos nach der Vermischung von unterschiedlichen materiellen Praktiken wie Gastgeschenken, Beutegut und Abgaben. An den Geschenken aus Canusiner Wolle während der römischen Kaiserzeit wird ferner eine alternative Deutung unter Einbeziehung des Erzählkontextes und der Berücksichtigung der Materialität der Gegenstände entwickelt. HEDWIG RÖCKELEIN thematisiert sakrale Objekte als Epochensignatur des Mittelalters. Sakralität hebt Dinge aus dem Alltäglichen, dem Allgemeinen heraus, lädt sie mit religiöser Bedeutung auf und macht sie heilig. Der sakrale Status der materiellen Objekte ist weder “von Natur aus” gegeben noch stabil. Vielmehr wird er hergestellt durch Strategien wie Inklusion, Riten oder Berührung mit dem Heiligen. Als eine Signatur der frühen Neuzeit kann eine zunehmende globale Verflechtung in der Kriegführung gelten, die sich auch innerhalb der materiellen Kultur niederschlug. Anhand des Österreichischen Erbfolgekriegs (1740-1748) und des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) diskutieren MARIAN FÜSSEL und SVEN PETERSEN, welche Bedeutungen den Dingen zugeschrieben wurden, welche Bedeutungen sie erzeugten und welchen Erinnerungswert sie für das heutige Bild dieser Kriege besitzen. Anhand von Kolonialskandalen in der deutschen Gesellschaft des langen 19. Jahrhunderts zeigt REBEKKA HABERMAS wie moral entrepreneurs Peitschen öffentlich zu Symbolen kolonialer Gewalt machten. Vor allem die spezifische Materialität dieser Peitschen aus Nilpferdhaut (Tschabok), durch die allein schon Differenz markiert wurde, war mit dafür verantwortlich, dass sich die emotionale Haltung der deutschen Gesellschaft zum Kolonialismus veränderte. Anhand der seit 2012 auf dem Tempelhofer Feld in Berlin laufenden Ausgrabungen des frühen Columbia-KZ und von Zwangsarbeiterlagern großer Rüstungsbetriebe wie Lufthansa und Weser Flugzeugbau GmbH untersucht REINHARD BERNBECK, welche Arten von historischen Erzählungen sich aus den archäologischen Funden ergeben können. Mit dieser aus dem Materiellen herrührenden Anregung, alternative Erzählungen zu konstruieren, wird der historischen Reflexivität Vorschub geleistet.

English Version:
‘Material culture’ has been regarded as peripheral branch of historical science for a long time, but this has changed recently. An ongoing ‘material turn’ in historical writing focuses the ‘materiality of history’ as well as the ‘history of materiality’. The panel takes this conceptual development as a starting point for a survey of historical research on material cultures on a diachronic basis. We ask what the key objects of each age were, how people acted through and with objects, what meaning was attached to or produced by objects and what values were ascribed to them. Starting from the culture of the gift in antiquity, Beate Wagner-Hasel questions the Homeric Epos concerning the interference of different material practices like presents, booty or tributes. With the presents of canusine wool in the times of imperial Rome she develops an alternative interpretation with regard to the context of narrative and the materiality of the objects dealt with. As key objects of the middle ages Hedwig Röckelein focuses on sacred objects. Sacrality separates things from the everyday life, from the ordinary, and fills them with religious meaning, makes them holy or ‘taboo’. The sacred status of objects was neither “naturally given” nor stable. It was rather made by strategies of inclusion, physical contact with the Saint or ritual practices of consecration. As a signature of the early modern period we can take the growing global entanglements through war which were mirrored in material culture of warfare. Analyzing the Austrian War of Succession (1740–1748) and the Seven Years War (1756–1763) Sven Petersen and Marian Füssel will discuss how things were attributed with meaning, what meaning they constituted and what kind of memo-value they contain for our historical images of these wars today. Cultural entanglement is also key to the colonial affairs in the public sphere of the German Kaiserreich of the long 19th century on which Rebekka Habermas focusses. Whips like the ‘sjambok’, a heavy leather whip traditionally made from an adult hippopotamus, were used by moral entrepreneurs as symbols of colonial violence in parliamentary debate. It was the particular materiality of these whips that changed the emotional regimes of German society concerning the colonies. With the paper by Reinhard Bernbeck we enter the archeology of the era of National Socialism. Presenting findings of the 2012 excavations on the Tempelhof Airport areal in Berlin on the ground of the former Columbia-KZ and the camps of forced labor by large arms factories like Lufthansa and Weser Flugzeugbau GmbH the paper asks what new historical narratives can develop from the archeological findings. With this stimulus for constructing alternative narratives deriving from materiality historical reflexivity is intensified.