Close Reading and Distant Reading. Methoden der Altertumswissenschaften in der Gegenwart

WOLFGANG SPICKERMANN (Graz) und CHRISTOPH SCHÄFER (Trier)
Vernetzter Alltag in den Germanischen Provinzen. Ein AIDA Projekt

MARTIN LANGNER (Göttingen)
Archäologische Datenbanken als virtuelle Museen

DIETA-FRAUKE SVOBODA (Tübingen)
Ein Schwabe im Orient. Auf den Spuren von Julius Euting

WERNER RIESS (Hamburg)
Eris. Hamburger Informationssystem zur Gewalt in der griechisch-römischen Antike

ANDREAS HARTMANN (Augsburg) und SABINE THÄNERT (Berlin)
Vom Thesaurus zum semantischen Netz. Potenziale von Data Mining in bibliographischen Datensätzen

ALEXANDER WEISS (Leipzig)
Clemens von Alexandria. Textmining-gestützte Beobachtungen zur Arbeitsweise eines „Sophisten”

Abstract:
Ausgangspunkt dieser Sektion sind die von Franco Moretti so eindrücklich als ‚distant reading’ beschriebenen Auswirkungen von quantitativen Analysemodellen in Verbindung mit graphischen Visualisierungen. Unter dem Schlagwort ‚distant reading’ sind neue Möglichkeiten diskutiert worden, aus der Menge von Daten durch die Anwendung algorithmenbasierter Auswertung mit den Methoden des Textmining, des Clusterings oder des Topic Modeling neue Zusammenhänge aus sehr großen Text- und Datenmengen zu erkennen.[1] Komplexitätsreduktion, Visualisierung und exploratives Experimentieren haben aber auch auf ganz neue Fragen geführt, von denen nicht zuletzt die Qualität der zugrunde gelegten Daten eine wesentliche ist. Diese prägnanten Ausführungen zur Taxonomie der Formen in Morettis Graphs, Maps, Trees lassen sich verallgemeinern und auch auf ganz andere Visualisierungsformen übertragen, die für das neue Feld der Digital Humanities aber auch für ganz andere disziplinäre Traditionen von Bedeutung sind. Die Fragen, die dabei im Vordergrund stehen, sind, welche Art von Information wird verwendet, wie wird sie verarbeitet, welche Formalisierungen werden eingesetzt und vor allem, welche impliziten Bedeutungen werden mitgetragen. Wie schließlich verhält sich dieser Ansatz zu dem close reading, wie es  bspw. in der traditionellen, historisch-philologischen Textanalyse praktiziert wird?
Alle Beiträge der Sektion stammen aus der Arbeitsgemeinschaft „Digital Humanities in den Altertumswissenschaften“ der Mommsen-Gesellschaft e.V. und greifen diese Zusammenhänge auf. Dabei ist es ein Anliegen der Sektion, die neuen Ergebnisse des letzten Jahres und gleichzeitig die Arbeit der Mommsengesellschaft den Mitgliedern des Historikerverbandes vorzustellen und zu diskutieren.
Die Visualisierung von räumlichen und zeitlichen Veränderungen von „Objekten“ und „Vorgängen“ und die Möglichkeit, historische Prozesse und Entwicklungen zu vermitteln, wird in dem Beitrag von Wolfgang Spickermann (Graz) und Christoph Schäfer (Trier) thematisieren. Mit Hilfe der Webble-Technologie (WEB-Based Life-like Entities), ist es möglich diese mit öffentlich zugänglichen (z.B. den großen Münz- und Inschriftendatenbanken) sowie weiteren lokalen Datenbanken (z.B. der Datenbank zu Heiligtümern in den Nordwestprovinzen) zu verbinden. Durch den Einsatz von Webble ist nicht nur die Integration unterschiedlichster verteilter Datenquellen möglich, sondern auch die dynamische Nutzung verschiedener Werkzeuge zur Geo- und Netzwerkanalyse. Durch diese Kombination bestehender, jedoch bis dato noch nicht verknüpfter digitaler Analyseverfahren können neue Fragestellungen und Perspektiven generiert werden. Dabei geht es vor allem um neue Arten der Hypothesenbildung, Perspektivenverschiebung durch die Genese explorativer Räume sowie die Visualisierung komplexer Räume, die rein textuell nicht in gleichem Maße umsetzbar sind.
Andreas Hartmann / Sabine Thänert (Augsburg) und Werner Rieß (Hamburg) gehen auf den methodischen Aspekt semantischer Vernetzung von genreübergreifenden, multirelationalen Datenbanken ein. Andreas Hartmann und Sabine Thänert werden Visualisierungsmöglichkeiten vorstellen (Graphen bzw. Tag Clouds), die einen neuartigen Zugriff des Benutzers auf bibliographische Informationen ermöglichen. Von besonderer methodischer Bedeutung für die Alte Geschichte ist auch die Verbesserung des systematischen Zugriffs auf die von der Klassischen Archäologie erschlossenen Sachquellen: Die Beiträge von Martin Langner und Matthias Lang zeigen, wie eine digitale Benutzerführung durch Virtualisierung ermöglicht wird: Martin Langner (Göttingen) schlägt am Beispiel archäologischer Datenbanken vor,  diese Daten durch verstärkte Anstrengungen zur Kontextualisierung und Vernetzung zukünftig in der Art eines Virtuellen Museums zu präsentieren. Der Beitrag von Matthias Lang wird am Beispiel der Reisen des Orientalisten Julius Euting zeigen, wie Raum, Zeit und Objekt in einem gemeinsamen Interface visualisiert werden können und so einen vielfältigen Zugriff auf die Tagebücher des Forschers zulassen.
Im Hamburger Informationssystem zur Gewalt in der griechisch-römischen Antike, ERIS, das Werner Rieß vorstellt, werden verschiedenartigste Facetten der Gewaltausübung, die antiken Textstellen entnommen werden können, in Form von Objekten, Kategorien und „Informationen“ multirelational so miteinander vernetzt, dass sich Semantiken der Gewalt epochen- und genreübergreifend erkennen und zum ersten Mal visuell darstellen lassen. In einem ersten Schritt des Projekts soll das Material mit Hilfe soziologischer Parameter erschlossen werden.
Die Möglichkeiten der graphischen Visualisierung in Verbindung mit quantitativen Auswertungen mit Hilfe der Methoden aus dem Information Retrieval (insb. des Textmining) sowie die damit verbundenen Änderungen der Wissensrepräsentation zeichnet der Beitrag von Alexander Weiß (Leipzig) nach.  Das Ziel ist es, Einsatzmöglichkeiten der automatischen Zitationsanalyse für Autoren mit umfänglichen Werken – hier Clemens’ „Teppiche“ und die Moralia des Plutarch- zu analysieren, um anhand des Vergleichs der Arbeitsweise deren Verankerung in kulturellen Praktiken zu erschließen; das Vorgehen basiert auf der Hypothese, daß es spezifische Muster des Zitierens gibt und diese Ausdruck einer zeitgenössisch geprägten Praxis sind.
Die Sektionsleiterinnen (Tanja Scheer, Göttingen; Charlotte Schubert, Leipzig) werden aus unterschiedlicher Perspektive kurz in das Thema einführen sowie  die Diskussionsleitung übernehmen.
[1] Die Formulierung ‚distant reading’ stammt von F. Moretti, Graphs, Maps, Trees, London/New York 2007; zu der Methodendiskussion vgl. v.a. L. Manovich, The language of new media, MIT Press 2007 und G. Crane, What Do You Do with a Million Books? D-Lib Magazine, Vol. 12/3 March 2006 (http://www.dlib.org/dlib/march06/crane/03crane.html, 26.4. 2013).